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Betreuung „zu intensiv“: Schwer geistig behindertes Mädchen aus der Region findet kein neues Zuhause

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Von: Christina Eisenberger

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Keiner hat Platz: Nach der Kündigung in Bayerisch Gmain sucht eine Familie verzweifelt ein neues Zuhause für die schwer geistig behinderte Tochter - ohne Erfolg. „Wir Eltern sind am Ende“, meint die Mutter. Warum selbst der Bezirk Oberbayern der Familie keine Lösung bieten kann:

Bayerisch Gmain/Südostoberbayern - „Wir fühlen uns total allein gelassen, auch von der Regierung.” Marlene* ist verzweifelt. Ihre schwer geistig behinderte Tochter Anja* (18) muss zum 30. September 2022 aus ihrem Zuhause, dem Haus Hohenfried in Bayerisch Gmain, ausziehen. Der Grund: Zu wenig Personal, um alle Kinder und jungen Erwachsenen mit Behinderung zu betreuen. 

*Zum Schutz der Familie wurden die Namen durch die Redaktion geändert.

Mädchen verliert Zuhause in Hohenfried - und findet keinen neuen Platz

Die junge Frau muss aufgrund ihrer Behinderung rund um die Uhr betreut werden. Mutter Marlene hat deswegen bereits etwa 30 Einrichtungen kontaktiert, um ein neues Zuhause für ihre Tochter zu finden. Zurück kamen bisher nur Absagen. Die Plätze sind rar, noch rarer für Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung, wie sie Anja hat. 

„Wir suchen schon in einem Umkreis von 300 Kilometern”, erklärt die Mutter. Was eigentlich zu weit ist. Die Familie, die in Südostoberbayern wohnt, pendelt bereits nach Hohenfried etwa 100 Kilometer. Einfach. Dennoch holen sie Tochter Anja jedes zweite Wochenende, sowie im Urlaub und in den Ferien, zu sich nach Hause. Wäre die neue Einrichtung etwa 300 Kilometer entfernt, müsste die Familie an einem Tag 600 Kilometer stemmen - und das zweimal pro Wochenende alle zwei Wochen. Das wäre bereits für die Eltern und jüngeren Brüder vergleichbar mit einer „Urlaubsreise”- und anstrengend für Anja. Die Tochter in der Einrichtung besuchen und in der Nähe ein Hotelzimmer fürs Wochenende buchen, wäre zwar möglich, aber auch Anja freut sich, wenn sie ihre Familie zuhause besuchen kann. „Sie ist gern daheim.” Szenarien, die jedoch kaum Realität werden, da schlichtweg keine Plätze frei sind. 

Betreuung „zu intensiv“: Einrichtungen lehnen Tochter ab

Eigentlich würde die Suche beim Bezirk Oberbayern 111 Treffer für mögliche freie Plätze ergeben, erklärt Marlene. „Doch wenn ich anrufe, haben fast alle keinen Platz. Und wenn doch, dann ist ihnen unsere Tochter zu intensiv zu betreuen.” Auch die Suche ist für die Familie ein hoher Aufwand. „Mehr wie die 30 Einrichtungen haben wir noch gar nicht geschafft. Wir haben uns bereits einige angesehen, telefonieren jedes Mal zwei, drei Stunden, beschreiben unsere Tochter und füllen die Unterlagen aus. Wir schaffen das zeitlich gar nicht mehr.” Zu dem Zeitpunkt hatten die Vollzeit arbeitenden Eltern gerade Urlaub. 

Gegen die Absagen aus den Einrichtungen kommt auch die zuständige Behörde, der Bezirk Oberbayern, nicht an. „Das Fallmanagement sowie die zuständige Sachbearbeitung unterstützen die Familien bei der Einrichtungssuche. Dazu steht das Fallmanagement in direktem Austausch mit den Einrichtungen. Der Bezirk Oberbayern hat jedoch kein direktes Belegungsrecht in einzelnen Einrichtungen”, erklärt eine Sprecherin gegenüber BGLand24.de, „Daher suchen wir auch Übergangslösungen, wenn ein Wohnplatz nicht unmittelbar gefunden wird. Auch Eltern, die unbezahlten Urlaub nehmen, um ihr erwachsenes Kind zu Hause aufzunehmen, werden von uns finanziell unterstützt.” 

Ziel des Bezirks sei es, „best- und schnellstmöglich zu handeln, um den betroffenen Familien gemeinsam mit der Einrichtung kurzfristige Lösungen anbieten zu können. Kinder, die nicht in eine andere Einrichtung vermittelt werden können, müssen in ihre Herkunftsfamilie zurückkehren.”

„Wir waren psychisch am Ende“: Betreuung zuhause keine Lösung

Unbezahlten Urlaub mithilfe finanzieller Unterstützung des Bezirks nehmen und Anja wieder selbst zuhause betreuen, ist für Marlene keine Lösung: „Wir haben uns erst vor eineinhalb Jahren für Hohenfried entschieden, weil wir es einfach nicht mehr geschafft haben. Wir waren psychisch am Ende und hätten uns langsam erholt. Es ist nicht so, dass wir unser Kind nicht wollen, wir können es nur nicht mehr stemmen. Die Belastung für die Familie sieht die Regierung nicht. Die reden sich immer so leicht. Dass ich mir mit Tagesstrukturen helfen und Betreuer suchen muss. Aber die Betreuer kommen mit Anjas Verhalten nicht zurecht. Es traut sich keiner zu - auch nicht meine Verwandtschaft oder meine Eltern. Ich habe keine Unterstützung.”

Auch Marlene sieht die verschärfte Situation durch den Personalmangel, den Grund, warum Anja ihr Zuhause verliert. „Seit März rufe ich beim Behindertenbeauftragten und beim Staatsministerium an, ob jemand die Einrichtung retten kann. Das Personal in Hohenfried war super, aber es hat keinen interessiert. Und wir Eltern sind am Ende. Wir haben sie 16 Jahre lang betreut, danach alle zwei Wochen abgeholt und in den Ferien. Irgendwann kann man nicht mehr.” Vom Bezirk heißt es laut Marlene derzeit, dass sie keine passenden Plätze für Anja finden und deswegen bundesweit suchen.

Eine Vollzeitpflege zuhause „hilft uns nicht“

Der Bezirk hätte Marlene eine weitere Alternative angeboten: eine Vollzeitpflege für Anja. „Aber wir haben daheim nicht die Möglichkeit, dass wir jemanden unterbringen. Anja lässt sich daheim auch schwer betreuen. Sie mag immer bei mir sein. Ich arbeite teilweise daheim. Dann würde sie zu mir ins Büro kommen, weil sie ihre Familie zusammen haben möchte. Eine Betreuung bei uns zuhause hilft uns nicht.”

Auch bei der Vollzeitpflege würde wieder die Frage nach dem verfügbaren Personal auftauchen. „Wir haben vorher auch keinen gefunden, nicht einmal stundenweise.” Anja sei kein Kind, das sich leicht betreuen lasse. „Die meisten geben gleich wieder auf.”

Mutter Marlene hat gegen die Kündigung in Hohenfried Einspruch erhoben. „Hohenfried ist ihre Heimat. Sie fühlt sich dort wohl. Sie ist glücklich.” Die Familie wird jedoch weiter nach einem Platz für ihre Tochter suchen. Marlene ist sich sicher: „Es gibt viele Einrichtungen, die wegen Personalmangel die Gruppen schließen mussten. Sonst hätten wir einige Plätze, die für Anja geeignet wären.“ Zur Not wird ein Elternteil zuhause bleiben, um die Tochter zu betreuen. „Wir fühlen uns einfach allein gelassen.“

ce

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