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„Sightseeing“ der anderen Art: Der bewegendste Moment der Reise

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Von: Simon Schmalzgruber

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Freuen sich über das Paket und eine Nähmaschine: Jens und Corinna Adam.
Freuen sich über das Hilfspaket und eine Nähmaschine: Jens und Corinna Adam. © Simon Schmalzgruber

Nach einem eindrucksvollen Aufenthalt im Sommer 2021 im Ahrtal machte sich unser Mitarbeiter Simon Schmalzgruber Anfang des neuen Jahres erneut ins Flutgebiet auf, um zu sehen, wie sich die Situation vor Ort verändert hat. Tag drei der bewegenden Reise...

Ahrtal - Ein neuer Tag bricht an. Nach einem Zwischenstopp in der Vinothek der Genossenschaft geht es weiter zu Familie Adam. Jener Familie, der ich vergangenen Sommer zusammen mit Dirk geholfen habe. Das Wiedersehen ist herzlich.

Neben einem Hilfspaket bekommt die Familie eine Nähmaschine und eine Jacke, über die sich besonders Corinna freut. „Damit seh’ ich aus wie eine Prinzessin”, kichert sie und dreht sich im Wind. Nachdem die Sachen in den zweiten Stock der Ferienwohnung verbracht wurden, geht es ein Stockwerk tiefer, zu Corinnas Mutter. Die wohl bewegendste Begegnung meines Aufenthaltes im Ahrtal steht bevor.

Corinna erzählt, dass ihre Mutter kurz vor knapp mit dem Hubschrauber gerettet werden konnte und zeigt mir auf ihrem Handy ein Bild von ihrer Mutter - im Schlafanzug und Bergetau. Hab und Gut wurde von der Flut mitgerissen: Das Haus mag zwar noch stehen, doch der Rest, also Garten, Klamotten, Erinnerungsstücke, alles perdü. Der Schock, die Fassungslosigkeit sitzt immer noch tief. Immer wieder muss Corinna ihre Mutter daran erinnern, dass alles weg ist. Und immer wieder möchte ihre Mutter das einfach nicht glauben. Nach langen und intensiven Gesprächen beginnt es schon wieder zu dämmern. Wir verabschieden uns von ihrer Mutter und machen noch einen Spaziergang durch das Dorf.

Tiny Houses: Bewährte Brückentechnologie nach Großschadensereignissen.
Tiny Houses: Bewährte Brückentechnologie nach Großschadensereignissen. © Simon Schmalzgruber

„Bis hierhin stand das Wasser“

Es dauert nicht lange, bis uns ein Polizeiwagen entgegenkommt. „Die fahren hier öfter rum”, erklärt Jens, „damit nicht geplündert wird. Viele sind nämlich nicht mehr zu ihren Häusern zurückgekehrt, da ist alles noch wie vor einem halben Jahr.” Wir gehen weiter. „Siehst du die braune Kante da?”, fragt mich Jens. „Bis hierhin stand das Wasser.” Eigentlich ist die Ahr 150 Meter weit weg. Aber in jener verhängnisvollen Nacht wurde die Ahr zu einem reißenden Strom, der alles vernichtete, was ihm in die Quere kam.

Wir passieren eine Neubausiedlung, bestehend aus Tiny Houses. Insgesamt 20 davon stehen mittlerweile im Ort. Kurz nach der Neubausiedlung finden wir uns in der Ortsmitte wieder. Die leerstehenden Häuser und Geschäfte machen einen gespenstischen Eindruck. „Hier haben wir bei jedem Weinfest gegrillt”, seufzt Jens und zeigt mir den Grillstand. Oder besser gesagt das, was von ihm übrig ist. Wir gelangen an die Ahr. In der Nähe des Ufers ist eine kleine Gedenkstätte für die Opfer der Katastrophe errichtet worden. Wir halten inne.  

Eine kleine Gedenkstätte erinnert an jene verhängnisvolle Nacht.
Eine kleine Gedenkstätte erinnert an jene verhängnisvolle Nacht. © Simon Schmalzgruber

„Na, schöne Fotos gemacht?“

Im Anschluss daran gehen wir den Fluss aufwärts. „Schaut mal!”, ruft Corinna euphorisch. „Die sind noch nicht lange da!” und deutet auf Wasservögel, die aus der Ferne wie Haubentaucher aussehen. „Schön, dass das Leben wieder zurückkehrt.” Es sind die kleinen, für uns so trivialen Dinge, die den Leuten an der Ahr wieder Hoffnung, Freude und Optimismus einhauchen.

Ich knipse nebenbei hin und wieder Fotos. „Na, schöne Fotos gemacht?”, fragt mich eine Autofahrerin mit niedersächsischem Kennzeichen sarkastisch. „Was?”, frage ich - es hat mir wortwörtlich die Sprache verschlagen. „Ob du schöne Fotos gemacht hast?”, wiederholt sie ihre Frage. „Ja klar! Ich muss den Leuten ja zeigen, was sich mittlerweile getan hat” und gebe mich als Journalist zu erkennen.

„Na dann ist ja gut!”, sagt sie und zieht von dannen. Ich bin für den Moment perplex, erst später begreife ich, dass es viele Probleme mit Leuten gab, die die Katastrophe für ihre Zwecke ausnutzten, seien es Plünderer, Gaffer, sogenannte „Influencer“ oder Katastrophentouristen. Auch mehrere Tiny Houses sollen schon geklaut worden sein, erfahre ich später. Kein Wunder also, dass Auswärtige mit Argwohn betrachtet werden.  

Im Weinkeller der Mayschosser Winzergenossenschaft fanden einst 1.000 Menschen Platz - so viel, wie die Ortsgemeinde Einwohner hat.
Im Weinkeller der Mayschosser Winzergenossenschaft fanden einst 1.000 Menschen Platz - so viel, wie die Ortsgemeinde Einwohner hat. © Simon Schmalzgruber

„Hier standen einmal drei Häuser“

Wir gehen weiter. Wie pfeift wieder ein warmer Wind durch den Ort. Die Aggregate der Leuchtmasten springen an. Wir gelangen an eine größere planierte Fläche. „Hier standen auch einmal drei Häuser”, erklärt mir Jens. Jetzt steht hier nur noch ein Kreuz, an dem drei Menschen eine Andacht halten. Als diese fertig sind, gehen wir dorthin. „Ah, die Frau...wochenlang war sie vermisst. Bis sie sie schließlich irgendwo im Rhein gefunden haben”, erinnert sich Jens. Eine von insgesamt vier Toten aus dem 911-Seelen-Ort. Ein Mensch, der vielleicht noch leben könnte, wäre er rechtzeitig gewarnt worden. Ich versuche ruhig zu bleiben, doch immer wieder muss ich mich zusammenreißen. Zu sehr nimmt mich das Ganze mit. 

Simon Schmalzgruber

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