Bittere Bilanz: „Bärendienst“ und „Versäumnisse“ - was von der Ära Merkel bleiben könnte

Der Journalist Stephan Hebel hat in einem neuen Buch eine erste Bilanz der Ära Merkel gezogen. Sein Urteil fällt hart aus: Die Kanzlerin habe Deutschland einen „Bärendienst“ erwiesen.
Frankfurt am Main/München - Angela Merkel selbst war es, die im Spätherbst 2018 ihrer Kanzlerschaft ein Ablaufdatum verpasste: Noch einmal wolle sie sich nicht zur Wahl stellen, teilte Merkel überraschend mit. Und so werden jetzt, nach 13 Jahren Merkel‘scher Ägide, auch schon erste Bilanzen gezogen.
Vergangene Woche ist sogar eine erste Zwischen-Abrechnung in Buchform erschienen. Der Journalist Stephan Hebel resümiert darin „Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft“ (Westend Verlag, 14 Euro). Allzu positiv fällt sein Urteil nicht aus: Merkel habe eine Mitverantwortung für den Aufstieg der AfD, schreibt er. Nicht zuletzt, weil sie keine „umfassende Strategie gegen die Entsicherung von Lebensverhältnissen“ gefunden habe, wie Hebel Merkur.de* erklärt - konkret etwa gegen Armutsrisiken wie übergroße Wohnkosten in den Großstädten.
Im Interview erläutert Hebel, Autor der Frankfurter Rundschau* und immer wieder Gast im ARD-„Presseclub“, warum politische Alternativlosigkeiten - die Merkel gerne bemühte - seiner Ansicht nach eine Mär sind und welchen Anteil die SPD an den Problemen im Land hat. Aber auch, warum bei der Beurteilung der Flüchtlingspolitik sowohl Merkel-Gegner als auch -Fans falsch liegen. Daran, dass die Ära Merkel noch bis September 2021 dauert, glaubt er übrigens nicht...
Autor über die Politik Angela Merkels: „Natürlich gäbe es Alternativen!“
In Ihrem Buch geben Sie Angela Merkel eine "Mitverantwortung für den Aufstieg derjenigen, die so tun, als sei der Kampf gegen Zuwanderung die einzige 'Alternative für Deutschland'". Steht Ihnen ein Fall vor Augen, in dem Angela Merkel eine Position unter Verweis auf einen Mangel an Alternativen durchgedrückt hat?
Stephan Hebel: Schon 2007, zwei Jahre nach Beginn ihrer Kanzlerschaft, hat Angela Merkel die Rente mit 67 als "alternativlos" bezeichnet. Das ist sie natürlich so wenig wie jede andere politische Entscheidung. Aber das bekannteste und vielleicht schlagendste Beispiel ist die sogenannte Hilfe für Griechenland, die Merkel ebenfalls "alternativlos" nannte. Bei diesen "Hilfen" handelt es sich in Wahrheit um Kredite, die in erster Linie das griechische und europäische Bankensystem stabilisieren sollten. Griechenland wurde im Gegenzug bekanntlich zu einer Sparpolitik gezwungen, die auf Kosten von Rentnern, Niedrigverdienern und vor allem von Jugendlichen geht, von denen dort immer noch jeder Dritte arbeitslos ist. Natürlich gäbe es dazu Alternativen! Man hätte Griechenland aus dem Euro werfen können, was ich nicht gut gefunden hätte. Man hätte aber auch eine Politik versuchen können, die durch Investitionen in die Realwirtschaft den Griechen geholfen hätte, ökonomisch gegenüber anderen EU-Ländern aufzuholen und damit die EU insgesamt stabiler zu machen. Genau das hat Angela Merkel immer verweigert.
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Die Erste, die das Bild einer "Alternativlosigkeit" gezeichnet hat, ist Angela Merkel allerdings auch nicht. Ähnlich hat auch schon die Regierung Schröder in Bezug auf die Hartz-IV-Reformen argumentiert.
Ich fand die Erzählung von der Alternativlosigkeit bei Schröder so gefährlich wie bei Angela Merkel. Was soll ich als Wähler von einem demokratischen System erwarten, das mir gar keine Alternativen zum Wählen anbietet? Die SPD als zweite Volkspartei, die sie damals noch war, hätte die Verantwortung gehabt, genau solche Alternativen zu formulieren.
Angela Merkel „nicht alleine schuld“ - für die SPD „könnte es zu spät sein“
Schröder hatte auf die Globalisierung und Marktzwänge verwiesen. Sind die Spielräume nicht tatsächlich kleiner geworden?
Es stimmt, dass nationale Spielräume kleiner geworden sind, gerade deshalb halte ich die rechte Erzählung vom Rückzug ins nationale Idyll für verfehlt. Aber hat nicht Politik die Pflicht, um die Erweiterung ihrer Spielräume zu kämpfen, wenn sie von bestimmten Inhalten überzeugt ist? Das hätte zum Beispiel bedeutet, eine Vereinheitlichung von Sozial- und Steuerstandards in Europa voranzutreiben, statt unter dem Vorwand der "Wettbewerbsfähigkeit" Löhne und Sozialleistungen zu drücken, wie Schröders Agenda das getan hat. Jetzt, da die SPD vor dem Abgrund steht, redet sie über europäische Mindestlöhne. Es könnte schon zu spät sein.

Eine Alternative im Parteienspektrum bieten, so schreiben Sie, aber auch SPD, Grüne oder Linke nicht. Woran liegt es, dass es in den vergangenen Jahren eigentlich dem ganzen Bundestag an größeren Ideen mangelte? Nur an Angela Merkel kann es ja auch nicht gelegen haben.
Nein, natürlich ist Angela Merkel nicht an allem alleine schuld, das schreibe ich im Buch ausdrücklich. Was ich eben schon für die SPD gesagt habe, gilt auch für die Grünen: Beide Parteien haben es nicht geschafft, sich der Ideologie der "marktkonformen Demokratie" klar entgegenzustellen. Das wäre nicht einfach gewesen, denn diese Ideologie hat eine wesentlich stärkere Lobby, vor allem in der Wirtschaft, als das Konzept einer konsequent sozialstaatlichen Politik für Deutschland und Europa. Ich bin überzeugt: Hätte die Regierung Schröder den Mut gehabt, sich den Einflüsterungen der Marktliberalen zu widersetzen, stünde vor allem die SPD heute besser da.
Angela Merkels Zukunft: „Ich habe gewettet, dass sie früher geht“
Sie verweisen auf eine gewachsene "Lust auf autoritäre Lösungen" in einem Teil der Wählerschaft. Wie lässt sich auf diese Tendenz nun überhaupt politisch reagieren, ohne in Populismus zu verfallen?

Ich zitiere da den US-amerikanischen Soziologen Richard Sennett. Er sagt auch, dass immer mehr Menschen in den USA und Europa "nicht mehr diskutieren, sondern abschalten" wollten. Ich sehe das im Zusammenhang mit dem Thema der angeblichen "Alternativlosigkeit": Manch einer scheint zu denken, wenn ich eh keine Wahl habe, sollen die da oben eben machen, was sie wollen. Genau das nutzen die Propagandisten der "Volksgemeinschaft" aus: Sie behaupten, es müsste nur ein starker Anführer kommen, der "das Volk" von allem Beängstigenden, vor allem aber von allem Fremden, befreit. Ich glaube dagegen immer noch, dass es eine andere Alternative gibt: den Spaß an der Demokratie wieder zu wecken, indem man radikale Reformkonzepte, gern auch mal Visionen, zur Diskussion stellt. Das Bedürfnis nach einer streitigen, aber demokratischen Debatte über die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ja nicht tot - schauen Sie nur, wie viele Menschen sich genossenschaftlich organisieren, etwa im Wohn- und im Energiebreich, und daraus zum Teil auch politische Ideen entwickeln.
Nach Stand der Dinge wird Angela Merkel wohl bis 2021 Kanzlerin bleiben. Trauen Sie ihr noch überraschende politische Weichenstellungen zu?
Dass sie wirklich bis 2021 bleibt, sehe ich noch nicht als ausgemacht an. Ich habe mit einem Kollegen gewettet, dass sie früher geht, und die Wette gebe ich noch nicht verloren. Überraschende Weichenstellungen, also eigenständig betriebene große Entscheidungen, erwarte ich nicht. Wenn sich aber eine der großen Krisen in der Welt weiter zuspitzt, könnte die reaktive Politik der Kanzlerin vielleicht noch mal zu einer spektakulären Entscheidung führen. So etwas wie die Garantie der Bankguthaben auf dem Höhepunkt der Finanzkrise.
Was werden die größten Herausforderungen für eine/n Nachfolger/in sein?
Was die Nachfolgerin oder den Nachfolger betrifft: Ich denke, wir brauchen eine neue Politik der Nachhaltigkeit im umfassenden Sinn. Nicht nur bei Umwelt und Klima, da auch - die Hörigkeit der Politik etwa gegenüber der Autoindustrie muss ein Ende haben, denn sie schadet auf Dauer dem Standort und nutzt ihm nicht. Aber Nachhaltigkeit betrifft auch die Gerechtigkeitsfrage. Die Verteilung des Reichtums, die Rente und die anderen Sozialsysteme. All das gehört grundsätzlich auf den Prüfstand, wenn der Staat wieder tun soll, was seine Pflicht ist, nämlich die Lebensverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger so weit zu sichern, dass sich jede und jeder ohne ständige Abstiegsangst entfalten kann. Ich sehe allerdings in der deutschen Politik niemanden, der sich an die Spitze einer solchen Bewegung stellen würde. Da muss schon mehr Druck aus der Gesellschaft kommen.
„Beim Flüchtlingsthema liegen sowohl die Merkel-Hasser als auch ihre Fans daneben“
Zu guter Letzt: Nachdem Sie sich intensiv mit dem "Erbe" Angela Merkels auseinandergesetzt haben - was könnte ein paar Jahre nach dem nahenden Wechsel im Kanzleramt rückblickend von der Kanzlerin Merkel in Erinnerung bleiben?
Da ist einerseits die Unfähigkeit, ich glaube auch: der fehlende Wille zu Reformen im Sinne der eben beschriebenen Nachhaltigkeit. Es wird auch Positives bleiben, zum Beispiel der Ausbau der Kinderbetreuung oder der Mindestlohn, den Markel akzeptierte, als der Druck zu groß zu werden drohte. Es wird der Versuch bleiben, das Verhältnis zu Russland nicht ganz vor die Hunde gehen zu lassen, verbunden allerdings mit Konzessionen an die Hardliner in der Nato, die ich für zu weitgehend halte. Es wird sich nach meiner Überzeugung leider auch zeigen, dass diese Kanzlerin die Brüche und Spaltungen in Europa nicht gemildert, sondern verstärkt hat.
Über alle Entwicklungen rund um die Brexit-Abstimmung in Großbritannien halten wir Sie in unserem News-Ticker auf dem Laufenden.
Viele haben zuletzt vor allem über Angela Merkels Flüchtlingspolitik gesprochen...
Beim Flüchtlingsthema liegen sowohl die Merkel-Hasser als auch ihre Fans nach meiner Überzeugung daneben. Ich sehe hier sowohl vor als auch nach dem berühmten Herbst 2015 eine fantasielose Politik der Abschottung, die an den Wurzeln der Migrationsprobleme nichts ändert. Insgesamt eine Kanzlerin, die die vorherrschende marktliberale Strömung in politische Praxis umgesetzt und damit dem Zusammenhalt der Gesellschaft einen Bärendienst erwiesen hat. Eine Kanzlerin der versäumten Reformen.
Interview: Florian Naumann
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