Wolfgang Ischinger: Für China ist es nützlich, wenn der Ukraine-Krieg andauert

Wolfgang Ischinger, Ex-Chef der Münchner Siko, warnt davor, Chinas Papier zum Russland-Ukraine-Krieg abzutun. Peking sei zwar nicht neutral, könne aber im Friedensprozess eine Rolle spielen.
- Ischinger hält es für einen Fehler, wenn der Westen Chinas Zwölfpunktepapier für Friedensdiplomatie im Ukraine-Krieg ignoriert. Teile des Textes bieten demnach Ansatzpunkte, um China auf Prinzipien festzunageln, die mit Europas Standpunkten im Einklang sind.
- Die EU hält er bislang für unzureichend vorbereitet auf die Zeit nach einem Ende der Kampfhandlungen. In den USA sieht Ischinger kein Interesse mehr an einem konstruktiven Umgang mit China
- Dieses Interview liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem China.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn China.Table am 20. März 2023.
Wolfgang Ischinger ist einer der erfahrensten Diplomaten in Deutschland. Er war Staatssekretär im Auswärtigen Amt sowie deutscher Botschafter in Washington und London. Von 2008 bis 2022 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz. Mit Ischinger sprachen Michael Radunski, Nana Brink, Felix Lee und Viktor Funk von Table.Media.
Am heutigen Montag reist Chinas Staatsführer Xi Jinping nach Moskau. Was ist von dem Treffen mit Wladimir Putin zu erwarten?
Ich wäre froh, wenn ich eine optimistische Prognose geben könnte. Aber die habe ich selbst nach wiederholtem Nachdenken nicht. Angesichts des desolaten aktuellen Zustands der US-chinesischen Beziehungen kann ich kaum einen Grund erkennen, warum sich Xi Jinping in Moskau auch nur einen einzigen Millimeter wegbewegen sollte. Ich fürchte deshalb, dass wir leider lediglich ein Replay dessen bekommen werden, was Xi und Putin schon im Februar vergangenen Jahres in Peking zelebriert haben: ihre grenzenlose Partnerschaft. Aber ich würde mich freuen, wenn diese Prognose zu pessimistisch wäre.
Das wäre in der Tat enttäuschend, vor allem da sich China zuletzt mit einem Positionspapier aus der Deckung gewagt hat. Allerdings ist der Zwölf-Punkte-Plan aus Peking im Westen vor allem auf Skepsis gestoßen. Zu Recht?
Ich hielt und halte es für einen strategischen Fehler, Chinas Papier vom Tisch zu wischen. Unter den vorgelegten zwölf Punkten finde ich exakt einen, den der Westen tatsächlich ziemlich kategorisch ablehnen muss. Das ist der Punkt, in dem China sagt: Sanktionen sind so lange illegal, wie sie nicht vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatiert sind. Da beißt sich die Katze in den Schwanz, denn dann müsste Russland gegen sich selbst Sanktionen erlassen. In allen anderen elf Punkten ist meines Erachtens hinreichend viel Fleisch am Knochen, um in ein Gespräch mit der chinesischen Seite einzusteigen.
Wie denn? Es ist ja alles doch sehr vage formuliert.
Das stimmt. Aber in der Diplomatie muss man selbst kleine Schritte mühsam erarbeiten, man muss aus seinem Gegenüber Dinge herauszukitzeln versuchen. Ich würde sagen: Herr Wang, Sie haben ja schon vor einem Jahr gesagt, China respektiere die territoriale Integrität der Ukraine. Im Falle des Ukraine-Kriegs müsste Russland also seine militärische Präsenz aus der Ukraine zurückziehen. Ist das ein Satz, mit dem China leben kann oder nicht? Wenn China nämlich mit dem Satz nicht leben kann, dann stimmt es nicht, dass China die territoriale Integrität aller Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen respektiert. Und noch ein Wort, weil China immer von Respekt redet: China ist 1972 Mitglied der UN geworden. Die Ukraine ist Gründungsmitglied der Vereinten Nationen. Wir wollen doch Respekt gegenüber diesem Gründungsmitglied der Vereinten Nationen zeigen, oder?
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Ischinger: Chinas Image in Europa leidet, wenn es nur als Partner Russlands auftritt
Welche Motivation steckt hinter dem chinesischen Papier?
China betreibt eine immer ambitioniertere Außenpolitik. Manche sprechen von aggressiverer Außenpolitik. China präsentiert sich als Champion des globalen Südens und als möglicher Mittler. China denkt vermutlich, dass es gar nicht so schlecht ist, wenn dieser Krieg noch ein Weilchen andauert. Dieser Krieg bindet nämlich die USA in Europa. Aber ich glaube auch, dass Chinas Reputation in Europa leidet, wenn es nur als Partner des Aggressors Russland auftritt. Chinas europäische Beziehungen sind ja ganz offensichtlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Da macht es Sinn, eine Position zu präsentieren, die so abstrakt formuliert ist, dass sie Russland nur abstrakt kritisiert und der 90 Prozent des globalen Südens zustimmen können.
Sie würden China als Vermittler also ernst nehmen?
Na ja, ich würde es anders formulieren: Den Anspruch Chinas, sich als Vermittler zu präsentieren – den würde ich respektieren. Aber ich glaube nicht, dass man, angesichts der bisherigen Positionierung Chinas, den Ukrainern China ernsthaft als den Vermittler präsentieren kann. Dazu ist China nicht wirklich neutral. Aber China könnte vielleicht mit anderen zusammen eine Rolle spielen. Warten wir mal das angekündigte chinesische Gespräch mit Wolodymyr Selenskyj ab.
Vor gut einer Woche hat China allerdings Erfolg gehabt als Vermittler zwischen Iran und Saudi-Arabien. Unterschätzen wir im Westen Chinas globalen Einfluss?
Ja. China ist politisch und vor allem wirtschaftlich nicht mehr wegzudenken. Ob die chinesische Außenpolitik deshalb durchweg von Erfolg gekrönt sein wird, ist eine andere Frage. Da wäre ich skeptisch und nehme nur das Stichwort Wolf-Warrior-Diplomatie. Da kommt überall viel Gegenwind.
Ischinger: China sieht Europas Länder als Kleinstaaten – die EU muss sich zusammenraufen
Auch in Gremien wie der UN-Vollversammlung, in der jedes Land unabhängig von seiner Größe eine Stimme hat, sehen wir, dass sich immer mehr Staaten auf die Seite Chinas stellen. Geht die Zeit des Westens als politische Führungskraft zu Ende?
Nein, ganz so weit würde ich jetzt nicht gehen. Aber die US-Politik hat sich selbst Fesseln angelegt, durch ihre völlig polarisierte Haltung gegenüber China. Mir scheint fast, als hätte man in Washington keinerlei Interesse mehr, überhaupt ein gutes Haar an China zu lassen. Ich finde es bedauerlich, dass jedes Zeichen von Entgegenkommen von den innenpolitischen Gegnern der Biden-Administration sofort als Schwäche ausgelegt wird. Das ist ein Mühlstein um den Hals des US-Präsidenten.
Wie beunruhigend ist die Situation in den USA?
Selbst das Editorialboard der New York Times hat zuletzt davor gewarnt: Man dürfe jetzt nicht blind in eine Art Krieg mit China rennen. Diese Mainstreaming-Meinung, dass man nur noch draufhauen soll auf China, habe ich auch in München auf der Sicherheitskonferenz erlebt. Man muss aber doch dringend eine Art Koexistenz finden. Kein Mensch erklärt den Amerikanern zur Zeit, dass der amerikanische Wohlstand wesentlich davon abhängen wird, dass die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu China nicht zusammenbrechen. Und klimapolitisch werden wir ohne Kooperation Chinas – dem größten Emittenten von CO₂ – kaum weiterkommen.
Die Amerikaner lähmen sich derzeit selbst. Da trifft es sich, dass Deutschland eine Zeitenwende angekündigt und mehr Führung versprochen hat. Was ist damit?
Ich halte es für strategisch dringend notwendig, dass die Europäische Union sich insgesamt endlich zusammenrauft. Wir müssen in der Chinapolitik mit einer Stimme sprechen – in Peking, aber auch in Washington. Wir müssen weg davon kommen, deutsch-chinesisch zu agieren, portugiesisch-chinesisch oder französisch-chinesisch. Aus der Sicht Pekings sind wir alle nichts anderes als Kleinstaaten. Die Chinesen werden nichts lieber tun, als divide et impera („Teile und Herrsche“) mit dem Europa von 27 Kleinstaaten zu spielen.
Ischinger: Vertiefter Dialog mit China zum Ukraine-Krieg notwendig
Also die EU. Was muss getan werden? Denn Sie haben ja gesagt, Sie würden genügend Fleisch im Knochen des chinesischen Papiers finden.
Wir sollten mit Peking in einen vertieften Dialog über die zwölf Punkte eintreten. Beispiel: Wenn China sich wiederholt gegen die Androhung des Einsatzes nuklearer Waffen positioniert, würde Peking vielleicht einen Satz mittragen, – oder zumindest nicht widersprechen – der Russland ganz konkret auffordert, solche Drohungen zu unterlassen. An die Ukraine, die keine Atomwaffen hat, kann man eine solche Forderung wohl kaum richten. Wir müssen, davon abgesehen, Antworten für den Tag X finden und weiterdenken.
Auf welche Fragen?
Was etwa soll passieren, wenn die Waffen eines Tages mal schweigen? Welche vertrauensbildenden Maßnahmen zwischen Russland und der Ukraine, falls überhaupt, wären möglich? Wer soll Frieden oder Waffenstillstand überwachen? Eine russisch-ukrainische Kommission, die OSZE oder die Vereinten Nationen? Sind wir uns zwischen Ukraine, USA und EZ bzw. Nato einig? Haben wir Pläne mit Alternativen? Wer käme für eine Vermittlungsgruppe infrage? Das Thema Sicherheitsgarantien und das Thema Nato-Mitgliedschaft? Brauchen wir da nicht endliche eine abgestimmte Position? Es gäbe 100 Themen, von denen am Schluss vielleicht nur zehn relevant sein werden. Aber ich hielte es für grob fahrlässig, wenn wir uns mit solchen vorsorglichen Hausaufgaben nicht jetzt schon befassen. Das ist eine zentrale Aufgabe vorausschauender Krisendiplomatie.
Weil sonst was passiert?
In dem Augenblick, in dem die Waffen mal schweigen, werden die Amerikaner mit 1.000 Seiten fertigem Papier aufkreuzen und uns Europäer ignorieren, wenn wir dann mit 27 verschiedenen Meinungen antreten und uns nicht einigen können. Die Amerikaner hingegen werden sagen: Hier ist das Papier, wir haben das mit der Ukraine schon besprochen und treffen morgen die Russen. Dieser Krieg findet in Europa statt. Bei den Modalitäten seiner möglichen Überwindung oder Beendigung darf Europa deshalb nicht am Spielfeldrand stehen. Deshalb jetzt mit USA und der Ukraine alle möglichen Optionen in einer Art Strategie-Kontaktgruppe gemeinsam durchdenken – das halte ich für zwingend notwendig.