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Ein Dokument unendlichen Leides: Tausendfacher Missbrauch in der katholischen Kirche

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Von: Claudia Möllers

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Erschütterung in Fulda: Kardinal Reinhard Marx sowie Erzbischöfe und Kardinäle ziehen nach dem Eröffnungsgottesdienst aus dem Dom.
Erschütterung in Fulda: Kardinal Reinhard Marx sowie Erzbischöfe und Kardinäle ziehen nach dem Eröffnungsgottesdienst aus dem Dom. © dpa/Arne Dedert

Die Studie über tausendfachen Missbrauch erhöht den Druck auf die katholische Kirche. DieBischöfe beraten in Fulda über mögliche Reformen. Doch eines ist schon klar: Rücktritte oder andere persönliche Konsequenzen wird es nicht geben.

Fulda – Seit mehr als 30 Jahren hat Professor Harald Dreßing als forenischer Psychiater mit psychisch kranken Straftätern zu tun. Man darf davon ausgehen, dass der Wissenschaftler vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim dabei in schlimmste menschliche Abgründe geblickt hat. Doch nach vier Jahren Forschung über den sexuellen Missbrauch an Kindern durch katholische Priester kann auch der um professionelle Distanz bemühte Wissenschaftler mit seiner Fassungslosigkeit nicht hinterm Berg halten: „Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs im Verantwortungsbereich der deutschen katholischen Kirche und auch der Umgang der Verantwortlichen damit haben mich erschüttert.“

Die Ergebnisse der Studie, die die Kirche in Auftrag gegeben hatte und die Dreßing als Koordinator gestern in Fulda präsentierte, legten nahe, dass es in der Kirche Strukturen gebe, die Missbrauch begünstigen könnten. „Dazu gehören der Missbrauch klerikaler Macht, aber auch der Zölibat und der Umgang mit Sexualität, insbesondere mit Homosexualität.“ Auch die Rolle der Beichte müsse überdacht werden, weil Täter sie zum Teil zur Tatanbahnung, aber auch zur Verschleierung und zur eigenen Entlastung missbraucht hätten.

3677 betroffene Kinder sind nur die Spitze des Eisbergs

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Münchner Kardinal Reinhard Marx, und der Trierer Bischof Stephan Ackermann als Beauftragter für Fragen des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Bereich sitzen neben Dreßing auf dem Podium. Mit ernsten Gesichtern, sich der Wucht der Vorwürfe und der Schuld, die die Kirche auf sich geladen hat, offenbar bewusst. Die Zahlen der Studie, von denen viele vor zwei Wochen durch Medien vorab bekannt wurden – 1670 beschuldigte Priester und Diakone, 3677 betroffene Kinder und Jugendliche – sind nur die Spitze des Eisbergs, dessen tatsächliche Größe unbekannt ist, so Dreßing. Weil Akten vernichtet oder manipuliert worden sind. Und: „Es handelt sich keinesfalls um ein historisches Problem, das in der Vergangenheit abgeschlossen ist.“

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Eine halbe Stunde fasst Dreßing die bitteren Ergebnisse der Studie zusammen. Jede Zahl wie ein Schlag ins Gesicht für die Bischöfe. Am Vormittag hatten der Professor und seine Kollegen ihre Erkenntnisse bereits den 67 deutschen Orts- und Weihbischöfen erläutert. Sexuelle Unreife und verleugnete homosexuelle Neigungen in einer homosexuellenfeindlichen Umgebung – darin sehen sie eine Erklärung dafür, dass von katholischen Klerikern überwiegend Jungen sexuell missbraucht worden sind. Die meisten 13 Jahre und jünger. Auch die Folgen des Missbrauchs, der meist erst nach Jahrzehnten ans Licht kam, haben die Wissenschaftler untersucht: Ängste, Depressionen, Misstrauen, Kontaktschwierigkeiten, Albträume, Alkoholmissbrauch. 4,3 Prozent der Betroffenen berichten von Suizidgedanken, 2,6 Prozent versuchten, sich das Leben zu nehmen.

Kardinal Marx bittet alle Opfer um Entschuldigung

Vor gut 200 Journalisten bittet Kardinal Marx alle Opfer um Entschuldigung und bekennt seine eigene Scham: Er habe das Geschehene lange nicht wahrhaben wollen, habe „nicht zugehört und weggeschaut“. Er habe gedacht, dass die 2002 verabschiedeten Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz ausreichten. Doch sie seien nicht streng genug gewesen. Deshalb seien sie 2010 verschärft worden. Auf Nachfrage stellt er aber klar: Er habe sich immer im Rahmen der geltenden Richtlinien verhalten. Nach heutigen Erkenntnissen betrachtet er aber einiges anders: „Dass einem heute manche Fälle durch den Kopf gehen, ist eine andere Frage.“

Doch wie steht es um persönliche Verantwortung? Gab es einen Bischof, der bei der ersten Diskussion bekannte, er habe in der Vergangenheit Fehler gemacht oder könne die Verantwortung des Amtes nicht mehr tragen?, fragt eine Journalistin. Die Antwort des Kardinals kommt schnell, knapp und deutlich: „Nein“.

Doch welche Konsequenzen ziehen die Bischöfe aus dem erschütternden Zahlenwerk? Soll eine staatliche Kommission noch einmal alle Akten prüfen, wie es die Opfervertreter und viele Politiker fordern? Die Antworten sind ausweichend. „Wir werden das diskutieren. Wir haben gelernt: Ohne Außenwahrnehmung läuft es nicht“, sagt Marx. „Ich bin bereit, darüber nachzudenken“, aber man müsse die Beschlüsse der Bischofskonferenz abwarten. Wo es den Opfern helfen kann, sollte man kooperieren.

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Während in Fulda die Bischöfe weiter über etwaige Konsequenzen hinter verschlossenen Türen beraten, werden in fast allen deutschen Bistümern neueste Missbrauchszahlen veröffentlicht. Im Münchner Erzbistum, wo die Akten bereits 2010 von einer Anwaltskanzlei durchforstet worden sind und wo im Zeitraum von 1945 bis 2009 159 Priester, 15 Diakone, 96 Religionslehrer und sechs Personen aus der Gruppe der Pastoralreferenten, Gemeindereferenten, Seelsorgehelfer und Jugendpfleger auffällig geworden sind, sind zwischen 2015 und 2017 acht Fälle gemeldet worden – darunter kein Kleriker.

In Fulda haben Kardinal Marx und seine Amtsbrüder am Morgen im Dom um neue Wege in der Kirche gebetet. Die reine Lehre, so Marx, mache die Kirche nicht glaubwürdig. Die Lehre müsse in der Praxis sichtbar werden. „Singt dem Herrn ein neues Lied“, haben sie angestimmt. Dass das mehr war als ein frommer Wunsch, müssen sie noch unter Beweis stellen.

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