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Ausgeleiert und verstaubt? Broadway-Klassiker „Anatevka“ in Rosenheim neu inszeniert

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Die Zuschauer konnten sich über sorgfältig inszenierte Choreographien freuen.
Die Zuschauer konnten sich über sorgfältig inszenierte Choreographien freuen. © Robert James Perkins

So begeisterte das Freie Landestheater Bayern im Kuko mit seiner Aufführung des Musicals „Anatevka“.

Von: Antonia Kuhn

Rosenheim – „Anatevka“, im englischsprachigen Original „Fiddler on the Roof“, wurde 1964 am New Yorker Broadway uraufgeführt und galt in vielerlei Hinsicht als revolutionär. Gerade in den Liebesduetten vermag es sich nicht ganz von der Idee des traditionellen amerikanischen Musicals zu lösen, aber das bemängelt wohl niemand bei so viel Charme, Aufrichtigkeit und – nicht zuletzt – der authentischen Darstellung jüdischer Kultur.

In den vergangenen Jahrzehnten ist das Stück auf deutschsprachigen Bühnen zum Standardwerk avanciert, doch gerade jetzt, wo das Musicalgenre stetig im Wandel ist, stellt sich die Frage nach der Relevanz. Ist „Anatevka“ nicht schon ausgeleiert, verstaubt, genauso antiquiert wie es scheinbar die Traditionen sind, nach denen die Gemeinschaft in dem kleinen ukrainischen Dorf um die Jahrhundertwende lebt? Wer am vergangenen Sonntag im Kultur- und Kongress-Zentrum die Inszenierung des Freien Landestheater Bayern gesehen hat, ist eines Besseren belehrt worden.

Vielschichtige Figuren

Die Handlung lebt von den vielschichtigen Figuren, die sich aus Klischees heraus zu individuellen, mit Stärken und Schwächen gezeichneten Persönlichkeiten entwickeln. Das ist nicht nur der Qualität des Librettos zu verdanken, sondern auch den großartigen Darstellern. Der Milchmann und jüdische Familienvater Tevje wurde schon 1964 in der Kritik der New York Times als „eine der schillerndsten Kreationen in der Geschichte des Musiktheaters“ gelobt. Matthias Degen verkörpert ihn mit genau der richtigen Dosis an hinterwäldlerischem Stolz und scharfsinnigem Humor. Ruppig, manchmal ein Jammerlappen, aber mit dem Herz am richtigen Fleck, ist er hin- und hergerissen zwischen tiefem Glauben und der Liebe zu seinen Töchtern. Man muss ihn einfach lieben, diesen Tevje.

Mezzosopranistin Elisabeth Neuhäusler ist Degen eine würdige Partnerin als scharfzüngige, im Grunde sensible Ehefrau Golde. Die beiden spielen einander mühelos die Bälle zu. Das Duett, in dem sie dem anderen nach über 25 Jahren Ehe zum ersten Mal ihre Liebe gestehen, ist einer der Höhepunkte des Abends. Tevje und Golde sind der Angelpunkt, um den sich das Geschehen dreht, und mit ihrer Wärme und starken Präsenz füllen die beiden Darsteller diese anspruchsvolle Funktion perfekt aus. Am Ende hat man das Gefühl, sie haben ihre Seelen auf dieser Bühne zurückgelassen.

Stimmlich und schauspielerisch souverän: Bariton Philipp Gaiser als idealistischer Kiewer Student. Die Romanzen der drei ältesten Töchter (Yvonne Steiner, Verena Eckertz und Melanie Renz) sind rührend anzusehen. Monika Reiser brilliert als aufgedrehte Hochzeitsvermittlerin mit ihrem Jiddisch. Andreas Fimm verleiht sogar der eigentlich nebensächlichen Rolle des Fleischers eine markante Persönlichkeit, die im Gedächtnis bleibt.

Musikalische Strahlkraft

Das Orchester unter dem allzeit souveränen Maestro Alois Rottenaicher strotzt nur so vor musikalischer Strahlkraft. Es ist ja auch eine tolle Musik, die Jerry Bock damals komponiert hat, die Interpreten haben sichtlich und hörbar ihre Freude. Und den Geigensoli wohnt in ihrer simplen Schönheit eine unglaubliche Kraft inne. Während der Sprechszenen lauschen die Musiker gebannt dem Bühnengeschehen. Orchester und Darsteller agieren, durch den nicht existenten Graben im Kuko begünstigt, wirklich gemeinsam.

Das Bühnenbild (Christian Kern) ist effektiv und wandlungsfähig in seiner Schlichtheit. Szeneriewechsel gliedern sich nahezu nahtlos in die Handlung ein, besonders, wenn Christoph Hanak als sympathischer Fiedler währenddessen auf der Bühne herumspringt. Julia Dippels klassische Inszenierung dringt bis zum Kern der Geschichte vor und glänzt in den Gruppenszenen wie dem Abend im Wirtshaus und der Hochzeit, wo auch die wunderbare Choreografie (Melanie Renz) sowie der stimmlich solide, spielfreudige Chor zur Geltung kommen.

Zeitlose Fragen

Der erste Akt zieht sich stellenweise. Die Traumsequenz kurz vor der Pause ist, wie in anderen Produktionen auch, bewusst bizarr angelegt und optisch gewöhnungsbedürftig. Im zweiten Akt ziehen alle Beteiligten noch einmal kräftig an, zu Ende hin bleibt wohl kaum ein Auge trocken – dafür müsste man sich als Zuschauer schon sehr anstrengen. „Anatevka“ reißt viele existenzielle, brandaktuelle Themen an. Was ist eine Heimat noch wert, wenn man sie verliert? Tevjes Textzeile „Wenn man reich ist, gilt man auch als klug“, kann als zeitloser Sozialkommentar verstanden werden. Nach einem komödiantischen ersten Akt endet das Stück bitterernst. Auf die Äußerung „Und unsere Vorfahren mussten schon viele Orte Hals über Kopf verlassen“, entgegnet Tevje achselzuckend: „Vielleicht tragen wir deshalb immer einen Hut auf dem Kopf.“

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