„Sich Hilfe zu holen ist keine Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke!“

Ein Gespräch mit Sophia Thiel über negative Glaubenssätze, Selbstwertgefühl, Essstörungen, Hasskommentare im Netz und den Mut, nicht perfekt sein zu müssen.
von Raphaela Kreitmeir
Sie stammt aus Rosenheim und hat sich an die Spitze der Fitness-Community trainiert. Mit 1,3 Millionen Followern ist Sophia Thiel nicht nur eine der erfolgreichsten deutschen Fitness-Influencerinnen, sondern hat auch viele Frauen (und natürlich auch etliche Männer) dazu motiviert, mehr für den eigenen Körper zu tun.
Dabei hat die heute 26-Jährige sehr lange Zeit eher gegen als mit ihrem Körper gearbeitet, hat ihn überfordert und unterernährt. 2019 kam der Zusammenbruch. Sie zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und hat sich grundlegende Fragen gestellt. Was haben definierte Muskeln mit Selbstwertgefühl zu tun, wie schränken Glaubenssätze die persönliche Entwicklung ein und welcher Raum bleibt neben der Marke „Sophia Thiel“ für den Menschen?
Antworten gibt sie in dem Buch „Come back stronger – meine lange Suche nach mir selbst“, das es bereits direkt nach dem Erscheinungstermin auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat.
Du posierst fast nackt auf dem Cover. Hat dich das Überwindung gekostet? Und was willst du mit diesem Bild ausdrücken?
Sophia Thiel: Das Muster auf meiner Haut symbolisiert ein Labyrinth, denn genauso haben sich die letzten Jahre für mich angefühlt. Das Leben hält manchmal Irrwege und Sackgassen für einen bereit, doch letztendlich konnte ich wieder zu mir, meinem Zentrum, zurückfinden. Ich hatte mir dieses Motiv schon lange vor der Vollendung des Buchs in den Kopf gesetzt, doch als der Tag für das Bodypainting-Shooting dann kam, war ich mehr als nur aufgeregt! Vor der Kamera legte sich jedoch dann die Nervosität, da man sich mit der Farbe auf der Haut dann doch nicht mehr so nackt fühlt.
2014 bist du zu einer raketenhaften Karriere gestartet und der Erfolg wurde immer mehr: YouTube, Instagram, TV und dann noch eine eigene Zeitschrift, in der es nur um dich ging. Wie hat sich das angefühlt?
Sophia Thiel: Zum einen habe ich mich natürlich sehr gefreut, konnte es aber nie so richtig begreifen, denn ich war doch einfach „nur die Sophia“. Mit dem Erfolg kam aber zum anderen auch ziemlich schnell der Druck, und ich hatte früher stets das Gefühl, dem Ganzen nicht gewachsen zu sein. Heute, nach fast sieben Jahren, fühlt es sich wesentlich angenehmer an und ich kann mit stressigen Situationen und Druck deutlich besser umgehen als früher.
Wie viel Raum bleibt neben der Marke „Sophia Thiel“ für dich als Mensch? Wie fühlt es sich an, „eine Marke“ zu sein?
Sophia Thiel: Es ist ein Fulltimejob. Vor meiner Auszeit haben mich, neben Social Media, mein tägliches Training und die Ernährung komplett eingenommen, und da war nur noch wenig Zeit für Freunde und Familie. Heute nehme ich mir bewusst Zeit für meine Familie, Freunde, meine Beziehung und für mich. Nur so geht es mir langfristig gut und kann ich auf Dauer „funktionieren“.
Welches Bild hattest du von dir, wer wolltest du sein?
Sophia Thiel: Ich habe schon immer Frauen aus der Hardcore-Bodybuilding-Welt bewundert. Ich wollte zu Beginn auch eine Bodybuilderin sein und so viel Muskelmasse aufbauen wie nur möglich. Nach kurzer Zeit habe ich jedoch gemerkt, dass meine Vorbildfunktion in den sozialen Netzwerken eine andere ist. Ich wollte Frauen für den Kraftsport begeistern – viele fühlen sich von extrem trainierten Bodybuilderinnen abgeschreckt. Somit habe ich einen „unmuskulöseren“ Weg eingeschlagen, wenn man das so sagen kann, habe aber fest an meinen Hardcore-Glaubenssätzen festgehalten.
Immer wieder schreibst du in deinem Buch über einen deiner Glaubenssätze: „Bin ich in Topform und schlank, bekomme ich Anerkennung, Zuneigung und Liebe. Sobald ich aber außer Form bin, bricht gefühlsmäßig alles zusammen.“ Woher hast du diesen Glaubenssatz genommen und was hat er möglich bzw. unmöglich gemacht?
Sophia Thiel: Er wurde zu einem Glaubenssatz in meinem Kopf, da er sich immer und immer wieder bestätigt hatte. In Topform bekam ich große Aufträge, Likes, positive Kommentare und Bestätigung durch mein näheres Umfeld. Sobald ich wieder zugenommen hatte, schlug alles in das genaue Gegenteil um. Das Problem war, dass ich nie gewollt zugenommen hatte und mit niemandem so richtig darüber reden konnte, da ich mich unglaublich dafür schämte. Für mich fühlte es sich jedes Mal wie pures Versagen an.
Sind Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein für dich das Gleiche? Worin unterscheiden sie sich?
Sophia Thiel: Nein, nicht ganz. Das Selbstwertgefühl beschreibt die Art und Weise, wie wir uns selbst beurteilen. Es besteht aus drei verschiedenen Säulen, wenn man es fachlich betrachten möchte: der Selbstliebe, dem Selbstvertrauen und dem Selbstbewusstsein. Wenn eine oder mehrere Säulen instabil sind, wird es schwierig mit dem Selbstwertgefühl – das war genau bei mir der Fall. Selbstbewusstsein hingegen ist, wie es das Wort schon sagt, das Bewusstsein seiner selbst.
Du hast deinen Körper durch das Bodybuilding nahezu neu erfunden, hast extrem abgenommen und deine Muskeln komplett austrainiert. Wie viel Zeit und Energie hattest du, um dich als junge Frau um deine innere Entwicklung zu kümmern?
Sophia Thiel: Genau DAS ist bei mir leider ziemlich auf der Strecke geblieben, womit ich dann in meiner Social-Media-Auszeit sehr zu kämpfen hatte. Ich dachte, dass ich einfach nur Pläne abarbeiten und wie eine Maschine funktionieren müsste … falsch gedacht.
In den letzten sieben Jahren wurden dein Leben und jede Änderung bei deinem Aussehen öffentlich beobachtet und oftmals kommentiert. Erlebst du Social Media als Segen oder als Fluch?
Sophia Thiel: Beides! Auf der einen Seite kann man Social Media gut für sich nutzen und sich Inspiration und Input holen, wobei man sich mit den verschiedensten Menschen weltweit vernetzen kann. Auf der anderen Seite kann diese oft verkörperte „perfekte Scheinwelt“ enorm unter Druck setzen – ganz zu schweigen von Hate-Kommentaren. Es geht um den richtigen Umgang mit den sozialen Netzwerken!
Wie schützt du dich heute davor, damit dich Hate-Kommentare nicht mehr verletzen?
Sophia Thiel: Ich kann es für mich besser einordnen und habe es als „Normalität“ akzeptiert. Ich lasse es nicht mehr so nah an mich ran und nehme es auch nicht mehr persönlich. Man wird auf Social Media IMMER mit Hatern zu tun haben, das ist mittlerweile unvermeidbar. Je mehr Follower, desto mehr ist man diesen ausgesetzt.
2019 hast du dich völlig überraschend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Was führte dazu?
Sophia Thiel: Auf dem Weg zur FIBO 2019 trat mein persönliches „worst case szenario“ ein, was mich zutiefst erschütterte. Ich beschreibe es sehr genau und detailliert in meinem Buch. In diesem Rock-Bottom-Moment, wie ich es nenne, wusste ich nur eines: Ich muss ganz alleine so weit weg wie nur möglich. Ich weiß nicht, wie und ob ich jemals wieder zurückkomme, aber SO kann und will ich nicht mehr weitermachen.
Was hat sich während deiner fast zweijährigen Auszeit verändert und was hast du in dieser Zeit über dich gelernt?
Sophia Thiel: Es war ein langer und harter Prozess mit vielen Rückschlägen, aber auch Learnings! Es war nie geplant, so lange weg zu bleiben, doch genau diese Zeit hat es gebraucht, um zu gesunden. Vor allem die Therapie war für mich das Beste, was ich je für mich und meinen Heilungsprozess hätte tun können. Ich habe meinen Selbstwert für mich erkannt und konnte mit mir selbst Frieden schließen. Natürlich ist das Ganze ein Prozess, und es gibt bessere, sowie schlechtere Tage, doch ich bin über die Entwicklung mehr als nur dankbar. Ich konnte lernen, mit meiner Essstörung besser umzugehen, und das schenkt mir heute enorme Freiheit.

Dass du unter einer Essstörung leidest, blieb – das vermittelst du in dem Buch – auch für dich lange unerkannt. Wer bzw. was hat dir geholfen, dein Verhältnis zum Essen klar zu sehen?
Sophia Thiel: Ganz klar: Therapie. Lange habe ich mich davor gesträubt und auch ich hatte dieses doofe Stigma rund um das Thema Psychotherapie im Kopf. Nach einem Jahr in der Auszeit habe ich mir eingestanden, dass ich es alleine nicht schaffe und habe professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Heute bin ich ein richtiger Fan davon und kann es wirklich jedem da draußen empfehlen! Sich Hilfe zu holen ist keine Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke! Je eher, desto besser!
Welchen Stellenwert hat Essen heute für dich?
Sophia Thiel: Einen wesentlich geringeren als früher und das finde ich toll. Damals haben sich mein ganzer Alltag und mein Denken nur um Essen gedreht – das fühlte sich an wie ein Gefängnis. Heute hat meine Ernährung einen normaleren Stellenwert eingenommen und ich genieße jetzt sehr viele Freiheiten und Flexibilität, ohne gleich in einen Fressrausch zu verfallen. Essen rückt immer mehr in einen gesunden Hintergrund und das freut mich so sehr, denn das macht den Kopf frei für neue Dinge!
Trainierst du noch so hart oder hast du dein Training umgestellt?
Sophia Thiel: Ich stehe immer noch auf hartes, intensives Krafttraining – das ist wirklich meine Leidenschaft. Mein Training habe ich jedoch dahingehend umgestellt, dass ich heute wesentlich flexibler und abwechslungsreicher trainiere. Ich probiere verschiedene Trainingsweisen aus und gönne mir auch mal bewusst Pausen.
Was ist dir heute wichtiger als früher, was hat an Bedeutung verloren?
Sophia Thiel: Heute ist für mich Nachhaltigkeit wichtiger denn je – in allen Bereichen. Nachhaltiges Training, nachhaltige Ernährung, nachhaltige Arbeitsweise etc. Ich lerne immer noch, von meinen Extremen loszulassen und aus dem Schwarz-Weiß-Denken herauszukommen. Der Drang nach Perfektion hat für mich definitiv an Bedeutung verloren, da, wenn man ehrlich ist, nichts und niemand perfekt ist. Mein Perfektionismus hat mich früher nie zur Ruhe kommen und mich nie gut genug fühlen lassen.

Du beschreibst das Buch als Teil deines Heilungsprozesses. Welche Wunden sind heute komplett verheilt, wo sind Narben entstanden?
Sophia Thiel: Auch wenn es manchmal schwer war beim Schreiben des Buchs, Vergangenes quasi noch einmal zu durchleben – es hat mir sehr geholfen, alles noch einmal aus der Vogelperspektive zu betrachten. Viele Dinge sind weitestgehend verheilt, aber natürlich gibt es daneben auch meine Narben, die aufgrund prägender Erlebnisse entstanden sind. Aber die gehören auch zu mir und machen mich zu dem Menschen, der ich heute bin.
Wie kannst du mit deiner Offenheit anderen helfen, die auch unter Essstörungen leiden?
Sophia Thiel: Indem andere dazu inspiriert werden, auch offen zu ihren „Päckchen“ zu stehen. Damit soll das Thema Essstörung, aber auch viele weitere psychische Erkrankungen, enttabuisiert werden. Je offener und gelassener man damit umgeht, umso mehr nimmt man dem Problem die Schwere und wird gleichzeitig offener für Hilfe!
Als Jugendliche wolltest du fit und stark sein und voller Energie im Leben stehen. Haben sich deine Wünsche geändert oder ist es immer noch das, was du sein möchtest?
Sophia Thiel: Wenn man von den Äußerlichkeiten absieht, bin ich heute stärker denn je! Und genauso fängt es an – von innen nach außen und nicht anders herum! Zu lange habe ich versucht, mein Äußeres stark zu machen, damit sich mein Inneres dem anpassen würde. Inzwischen fühle ich mich innerlich gefestigt und kann auf lange Sicht meinen Körper besser formen, so wie ich mir das in Zukunft wünsche.
Du wolltest dir und deinen Fans eine Perspektive bieten, einen gangbaren Weg mit Happy End. Und dann kam Raphael in dein Leben. Fühlst du dich heute glücklich?
Sophia Thiel: Heute bin ich glücklicher denn je. Nicht nur ausschließlich wegen Rapha natürlich, sondern über die ganze bisherige Entwicklung! Ich genieße die Zeit mit meiner Familie, habe inzwischen wieder Freunde, kann wieder wie gewohnt arbeiten und produktiv sein und fühle mich einfach wieder richtig frei.

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