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Kleine Schwellen, große Hürden: Wie Ingo Hesse für ein barrierefreies Wasserburg kämpft

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Von: Heike Duczek

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Kennt Wasserburgs Barrieren und kämpft dagegen an: Ingo Hesse, Mitglied im Behindertenbeirat (rechts) bei einem Ortstermin an der Hermann-Schlittgen-Straße mit (von links) Bürgermeister Michael Kölbl, Doreen Bogram, Mitglied des Behindertenbeirats, Alexander Huber, Stadtbauamt, sowie Mechtild Herrmann, Stadtbaumeisterin.
Kennt Wasserburgs Barrieren und kämpft dagegen an: Ingo Hesse, Mitglied im Behindertenbeirat (rechts) bei einem Ortstermin an der Hermann-Schlittgen-Straße mit (von links) Bürgermeister Michael Kölbl, Doreen Bogram, Mitglied des Behindertenbeirats, Alexander Huber, Stadtbauamt, sowie Mechtild Herrmann, Stadtbaumeisterin. © Andreas Hiebl

Ein Unfall hat dem Leben von Ingo Hesse vor zehn Jahren eine Wende gegeben: Seitdem hat der 58-Jährige eine spastische Lähmung in der linken Hand und im linken Arm. Er hat den Schock überwunden und legt ehrenamtlich im Behindertenbeirat unbeirrt die Finger in die Wunden, wenn es um Stolperfallen geht.

Wasserburg - Eine Sekunde und das Leben ist nicht mehr, wie es vorher war. So erging es Ingo Hesse, der vor zehn Jahren stürzte und sich die linke Hand und den linken Arm so schwer verletzte, dass eine spastische Lähmung geblieben ist. „Es war ein richtiger Schlag für mich“, erinnert sich der Anlagentechniker, der beruflich viel praktisch gearbeitet hatte - zuletzt vor seinem Unfall als Industrie- und Fahrradmechaniker. Dass er mal wieder zurückkehren würde in eine handwerkliche Tätigkeit - Hesse ist Hausmeister im evangelischen Pfarrheim von Wasserburg -, damit hat er in der ersten Zeit nicht gerechnet. „Anfangs war es schon sehr schlimm - vor allem emotional“, sagt er. Doch der 58-Jährige boxte sich durch. Heute ist er ein Könner im Arbeiten mit einer Hand: „Ich schneide Hecken, baue Möbel zusammen, repariere wieder Fahrräder“, sagt er stolz. Dass das wieder klappt, liegt an vielen Kniffen und Tricks, die er sich angeeignet hat.

Viel anstrengender als die Bemühungen um handwerkliche Fähigkeiten, ausgeübt nur mit einer Hand, war für Hesse jedoch der Kampf durch den Dschungel der Bürokratie. Es war ein langer Weg bis zum Schwerbehindertenausweis, bis zum Wissen über all das, was ihm als Mensch mit anerkanntem Handicap zusteht und wo es welche Hilfen gibt. Sein umfangreiches Know-how, erworben aus der eigenen Betroffenheit heraus, bringt Hesse seit 2020 auch im Behindertenbeitrat der Stadt Wasserburg ein. Er besteht aus vier Mitgliedern, neben Hesse sind es noch Doreen Bogram und Ethel-D. Kafka als Leiterin des Bürgerbahnhofs, Sitz des Beirats. Eine Position ist derzeit offen und neu zu besetzen. Hesse hofft ebenso wie Kafka, dass sich bis zum 6. April noch Interessenten für dieses wichtige Amt melden. Sie können, müssen aber nicht selbst betroffen sein, sondern sollten sich für das Thema Barrierefreiheit - baulich, aber auch in den Köpfen der Menschen - interessieren.

Als Neubürger neutralen Blick von außen

So wie Hesse, der erst seit 2020 ein Wasserburger ist. Er hatte anfangs deshalb einen guten Blick von außen auf die neue Heimat, Betriebsblindheit ausgeschlossen. Vieles ist ihm in den vergangenen zweieinhalb Jahren aufgefallen - Kleinigkeiten wie eine fehlende Sitzbank zum Ausruhen auf der Innhöhe, eine zu hohe Bordsteinkante in der Ledererzeile, eine Treppe als Hindernis am Marienplatz oder eine zu steile Rampe und zu schmale Gehwege für den Rollstuhl. Oft seien diese Problemstellen ohne großen Aufwand zu beheben, sagt er. Bei Neubauten werde ohnehin heutzutage sehr auf die Barrierefreiheit geachtet. Bei öffentlichen Gebäuden werde der Beirat als Gremium von Experten stets beratend hinzugezogen. Regelmäßig fänden Begehungen mit der Stadtbaumeisterin statt, die eine große Sensibilität für das Thema behindertengerechtes Bauen habe, berichtet Hesse. Die Zusammenarbeit mit der Kommune klappe „wunderbar“. Bestes Beispiel: das Ringen um eine perfekte Lösung für den neuen inklusiven Spielplatz am Holzhofweg.

Trotzdem: Wasserburg ist, was die Barrierefreiheit angeht, ein schwieriger Fall. Die ganze Altstadt steht unter Ensemble-Denkmalschutz. Hohe schmale Bürgerhäuser, Kopfsteinpflaster, enge Arkaden, große Höhenunterschiede - etwa auf dem Weg zur Burg: Die Rahmenbedingungen sind nach Erfahrungen von Hesse „herausfordernd“. Schnelle Lösungen gebe es selten, Geduld sei gefragt. „Doch wir sind ein gutes Team, wir arbeiten konstruktiv, sind aber auch sehr streitbar“, sagt Hesse. „Ich bin außerdem ein sturer gebürtiger Mecklenburger“, betont er schmunzelnd, „ich scheue mich auch nicht davor, Druck zu machen.“

Doreen Bogram und Ingo Hesse vom Behindertenbeirat auf dem Gelände des Großklinikums in Gabersee. Hier gibt es noch viel zu tun in punkto Barrierefreiheit, sagen sie.
Doreen Bogram und Ingo Hesse vom Behindertenbeirat auf dem Gelände des Großklinikums in Gabersee. Hier gibt es noch viel zu tun in punkto Barrierefreiheit, sagen sie. © Duczek

Größter Kritikpunkt in der Stadt: das neue Großklinikum

Beispielsweise beim wichtigsten Thema, das ihn als Mitglied im Behindertenbeirat besonders umtreibt: die Barrierefreiheit auf dem Gelände des neuen gemeinsamen Baus von kbo-Inn-Salzach-Klinikum und Romed-Klinik in Gabersee. Hier gibt es nach Hesses Erfahrungen noch viele Baustellen: zu lange Strecken vom Parkplatz bis zum Eingang, fehlende Ausschilderungen und Hilfsmittel für Menschen, die nicht so mobil oder blind sind, keine direkte Busanbindung, Zugangsstraßen ohne Gehweg. Immer wieder hat der Behindertenbeirat den Finger in die Wunden gelegt, eine Begehung und Besprechung nach der anderen angestoßen. „Mein größter Wunsch ist es, dass wir all diese Probleme rund um und in der Großklinik in den Griff bekommen.“ Ein „Geht-nicht“ will Hesse nicht akzeptieren.

Kleines Problem, das nervt: Schuhe binden mit einer Hand

Das gilt auch für sein Leben, das durch die spastische Lähmung von Arm und Hand beschwerlicher geworden ist. Nach wie vor gibt es Probleme, bei denen Hesse auf Hilfe angewiesen ist. Ein Beispiel: Schuhe binden. Es gibt einen Ein-Hand-Knoten, dafür sind jedoch extrem lange Schnürsenkel notwendig. Diese gebe es aber nur für Turn-, nicht für die modischen Bugatti-Schuhe, die Hesse so gerne trägt. „Das ist zwar nur eine Kleinigkeit im Alltag, zeigt aber, dass es nach wie vor Hürden gibt“, so seine Erfahrung. Immer wieder stoße er an seine Grenzen, erarbeite sich dann jedoch wieder neue Chancen. Doch das koste Zeit und erfordere Geduld.

Beides sollten Bewerberinnen oder Bewerber für den Behindertenbeirat ebenfalls mitbringen, sagt er. Das Ehrenamt lasse sich jedoch gut in den Alltag integrieren - auch bei Berufstätigen. Regelmäßig ständen Beiratssitzungen, einmal im Monat Kontaktcafétreffen, außerdem Begehungen und Netzwerkarbeit an. Der zeitliche Aufwand sei „überschaubar“. Die Aufgabe eigne sich für alle, die mit offenen Augen durch die Stadt gehen und sich trauen würden, ihre Meinung zu sagen und zu vertreten. Das Ehrenamt im Behindertenbeitrat gebe außerdem viel zurück: „Ich finde es bereichernd. Man lernt seine Stadt intensiv kennen, kommt mit vielen Menschen in Kontakt.“

Bewerbungen im Bürgerbahnhof

Bis einschließlich Donnerstag, 6. April, können sich Interessenten für die Mitgliedschaft im Behindertenbeirat von Wasserburg bewerben. Ansprechpartnerin ist die Leiterin des Bürgerbahnhofs, Ethel-D. Kafka, Bahnhofsplatz 14, Telefon 08071/5975286, buergerbahnhof@wasserburg.de. Wer Kontakt zum Beirat sucht, kann zu den monatlichen Treffen kommen. Nächster Termin von 14 bis 16 Uhr im Cafésito des Bürgerbahnhofs ist Mittwoch, 5. April. Das Kontaktcafé ist hier jeden ersten Mittwoch im Monat.

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