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Warum Attel ein „krummes Jubiläumsjahr“ feiert - mit Kriminalstück und 150 scheenen G‘sichtern

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Von: Heike Duczek

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Die Gebäude der Stiftung, die 2023 das 150-jährige Bestehen feiert,  prägen den Stadtteil von Wasserburg, der ihren Namen - nur geschrieben Attel statt Attl - trägt.
Die Gebäude der Stiftung, die 2023 das 150-jährige Bestehen feiert, prägen den Stadtteil von Wasserburg, der ihren Namen - nur geschrieben Attel statt Attl - trägt. © Stiftung Attl

2023 feiert die Stiftung Attl das 150-jährige Bestehen - übrigens nicht 12, sondern 13 Monate lang. Warum das Jubiläumsjahr ein krummes ist, welche Rolle dabei ein Mord, hunderte Lichter und 150 „scheene G‘sichter“ spielen.

Wasserburg - Wenn ein Jubiläumsjahr an einem Montag startet, muss es einen guten Grund haben: So ist es auch beim Jubiläum der Stiftung Attl. Der Auftakt ist am 23. Januar - ein Datum mit historischer Bedeutung: Denn am 23. Januar 1873 hat der Orden der Barmherzigen Brüder mit den Brauereibesitzern Randlkofer den Kaufvertrag für das ehemalige Benediktinerkloster Attl unterschrieben. Am 17. Februar desselben Jahres gründeten sie die Stiftung für Menschen mit Behinderung. Deshalb feiert diese nicht nur im Jahr 2023, sondern bis zum 17. Februar 2024 hinein, erläutern die Organisatoren des Jubiläumsjahres, Michael Wagner und Birgit Schlinger aus der Unternehmenskommunikation.

Sie hatten bei der Aufstellung des Programms also nicht nur 12, sondern 13 Monate Zeit, um die vielen Aktionen unterzubringen: darunter Ausstellungen, Feste, Sport- und Kulturveranstaltungen. Zum Auftakt am Montag, 23. Januar, wird Attel leuchten: Projektionen, Animationen, Laser- und Lichterinstallationen tauchen das Gelände der Stiftung in Farben - nach dem Vorbild von „Wasserburg leuchtet“ und dem „Stoa Leuchten“. Urs Hasler und Eva Wackerle sowie Anna Schöll haben Licht-Kunstwerke zum Jubiläum entwickelt.

Initiator der Ausstellung „150 scheene G`sichter“: Michael Wagner von der Unternehmenskommunikation im Ausstellungsraum, dem alten Ross-Stall des ehemaligen Klosters.
Initiator der Ausstellung „150 scheene G‘sichter“: Michael Wagner von der Unternehmenskommunikation im Ausstellungsraum, dem alten Ross-Stall des ehemaligen Klosters.  © Schlinger

Optisch geht es eindrucksvoll weiter: „150 scheene G‘sichter“ sind im alten Ross-Stall der Stiftung zu sehen. Menschen mit Assistenzbedarf, aktuelle und ehemalige Mitarbeiter, Freunde und Wegbegleiter der Stiftung haben sich für eine Ausstellung fotografieren lassen. Die Portraits wechseln sich an acht großformatigen Bildschirmen ab. Wer zu sehen ist, welche Rolle die Person in der Stiftung einnimmt oder in welcher Beziehung er oder sie zur Einrichtung stehen, wird nicht thematisiert, erklärt Wagner, der die Idee für die Ausstellung hatte. „Es sind lauter scheene G‘sichter - markante, junge, alte - Persönlichkeiten halt“, sagt er. Klischees über Menschen mit Behinderung möchte er auf diese Weise aufbrechen, Barrieren in den Köpfen abbauen. Die Bereitschaft, sich fotografieren zu lassen, war bei den Betreuten groß, freut sich Wagner. „Unsere Mitarbeiter ohne Assistenzbedarf haben da viel verhaltener reagiert.“

Ein Theaterstück über einen Mord

Die Stiftung hat zum 150. Geburtstag sogar ein Theaterstück geschenkt bekommen: Jörg Herwegh hat es nach einem wahren Fall geschrieben. Es ist ein Kriminalstück, denn 1938 gab es einen Mord in der Stiftung Attl. Pfleglinge erstachen einen Pater der Barmherzigen Brüder. Das Theater Herwegh erzählt die Geschichte aus den historischen Akten im Mai - im alten Rinderstall des Gebäudeensembles, der zum Theatersaal wird.

Zum Jubiläum wird zum ersten Mal außerdem die Geschichte der Stiftung detailliert aufgearbeitet, denn es gibt viele Dokumente aus den vergangenen 150 Jahren, die noch nicht ausgewertet worden sind, berichtet Schlinger. 1970 übernahm der Caritasverband der Diözese München und Freising die Verwaltung der Stiftung. Seit gut 50 Jahren ist ihre Geschichte relativ lückenlos dokumentiert, doch die 100 Jahre davon unter Leitung der Barmherzigen Brüder bedürfen einer Aufarbeitung. Das hat im Auftrag des Jubilars der Historiker Reinhard Kreitmair übernommen. Er schreibt eine Abhandlung über 150 Jahre Stiftung Attl, die zum Ende des Jubiläums herauskommen soll. Eine Ausstellung mit Zeitdokumenten aus den Archiven ist jedoch auch schon beim Auftakt am 23. Januar zu sehen. Auch eine interne Veranstaltung wird sich am 24. März der Stiftung, die schon unter den Barmherzigen Brüdern keine kirchliche, sondern eine bürgerlichen Rechts war, im Wandel der 150 Jahre widmen.

Viel hat sich geändert in diesen Jahren - vor allem jedoch das Bild von Menschen mit Assistenzbedarf, berichten Wagner und Schlinger. Früher gab es für sie selten ein selbstbestimmtes Leben mit Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Viele Behinderte wurden sich selbst überlassen oder im familiären Umfeld „versteckt“. Schon die vor 150 Jahren von den Barmherzigen Brüdern gegründete Stiftung galt bei der Gründung als innovativ. Denn Menschen mit Assistenzbedarf erhielten zum ersten Mal eine Betreuung und Förderung. Noch stand zwar die Versorgung - wohnen und essen - im Fokus, so Schlinger und Wagner.

Doch in der Lebensgemeinschaft im Kloster bekamen die Betreuten ein Zuhause, in dem sie nicht nur verwahrt wurden, sondern auch Aufgaben übernehmen konnten. Die Barmherzigen Brüder betrieben eine eigene Landwirtschaft, eine Gärtnerei, sogar eine Mühle zur Stromproduktion. Sie erwarben Ländereien dazu, erweiterten die Gebäude, schufen neue Wohn- und Arbeitsplätze. 60 bis 80 Menschen mit Behinderung fanden schon unter den Padres in Attel ein Zuhause. „Wir sollten diese Zeit und die Arbeit der Barmherzigen Brüder nicht vergessen“, finden die Organisatoren des Jubiläums. Natürlich hätten Betreute in diesen Jahren auch schlechte Erfahrungen gemacht: Vernachlässigung und Gewalt hat es gegeben, ist aus den Chroniken herauszulesen. Die Stiftung „Anerkennung“ arbeitet diese Erfahrungen von Menschen, die in der Zeit nach dem Krieg bis in die 70iger Jahre hinein in der Behindertenhilfe oder Psychiatrie Unrecht erfahren haben, auf. Sie hört Betroffene und ihre Nachfahren, entschädigt. Doch es gab auch viele großartige Persönlichkeiten unter den Padres wie Pater Rupert Mayer, nach dem bis heute ein Wohnbereich benannt ist.

Nachfrage im Bereich der Intensivplätze nimmt „Dramatische Züge“ an

Ein Thema zieht sich trotz des Wandels in der Heilerziehungspflege und Behindertenarbeit wie ein roter Faden durch die 150-jährige Geschichte der Stiftung Attl: der Personalmangel. „Der Bedarf an Pflegeplätzen ist viel höher, als wir personell abzudecken im Stande sind“, sagen Wagner und Schlinger. Das war schon zu Zeiten der Barmherzigen Brüder so, wissen sie. „Dramatische Züge“ nehme die Nachfrage im Bereich der Intensivplätze an, bedauert die Stiftung, die etwa 1.000 Betreuungsplätze vorhält und 1.100 Mitarbeitende (Personal ohne Assistenzbedarf) beschäftigt.

Weitere Höhepunkte im Jubiläumsjahr 2023/2024

Nach der Auftaktveranstaltung zum Jubiläum am Montag, 23. Januar, mit Ausstellungen sowie der Aktion „Attel leuchtet“ steht im Mai die Einweihung eines Bankerlwegs auf dem Programm. Die Sitzgelegenheiten, erstellt von Mitarbeitenden und Freunden der Stiftung, verteilen sich über das Gelände. Am 1. Mai ist außerdem Maibaumaufstellen. Am 6. Mai findet ein Fußballturnier von Einrichtungsteams statt. Vom 19. bis 29. Mai ist Theatersaison in Attel. Am 1. Juli gibt es wieder den Attler Lauf, diesmal in einer Jubiläumsausgabe.

1973 zur 100-Jahr-Feier öffnete sich die Stiftung Attl zum ersten Mal ganz weit nach außen: Das Attler Herbstfest feierte Premiere. Vom 8. bis 11. September bildet es 2023 auch den festlichen Höhepunkt des Jubiläumsjahres zum 150-jährigen Bestehen. Das Attler Herbstfest hat sich in den vergangenen 50 Jahren zum größten Inklusionsfest in Südostbayern entwickelt - 15.000 Besucher an vier Tagen waren vor der Pandemie die Regel. Am Samstag, 16. September, ist eine Gewerbeschau im Zelt des Herbstfestes geplant. Schwerpunkt der Ausstellung: Fachdienste und Anbieter aus dem sozialen und medizinischen Bereich. Ebenfalls am 16. September: ein großer Flohmarkt.

Die Tour de Rolli ist für den 3. Oktober vorgesehen. Am 17. Februar 2024 soll die Abschlussveranstaltung stattfinden, bei der eine Werkschau die Chronik vorstellt.

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