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„Egal welche Fahne über meiner Stadt hängt, ich bin Ukrainerin und niemand kann mir das wegnehmen!“

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Von: Olena Leneschmidt

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Krieg-Mariupol
Von der ukrainischen Hafenstadt Mariupol sind nur noch Ruinen übrig © privat

Mariupol – Der 24. Februar hat das Leben aller Ukrainer in ein Davor und Danach geteilt. Nach über zwei Monaten unaufhörlicher russischer Angriffe ist die ukrainische Hafenstadt Mariupol zu einer Geisterstadt geworden. Massengräber, Leben mitten in einer humanitären Katastrophe, der unermüdliche Widerstand im Azow-Stahlwerk. Im Interview spricht die junge Ukrainerin Maryna (Name von Redaktion geändert) aus Mariupol offen über den Schmerz um ihre Heimatstadt. 

Mariupol gehört zum Donezk-Gebiet, das zusammen mit Luhansk seit dem Jahr 2014 zu selbst ernannten Volksrepubliken DNR und LNR erklärt wurden. Ende Februar, bevor der Krieg am 24. Februar ausbrach, hat der Kreml die selbsterklärten Republiken anerkannt. Welche Reaktion hatten Sie und Ihre Mitbürger darauf?

„Mariupol ist eine russischsprachige Stadt. Ich kann aber zweifellos sagen, dass sich niemand über die Anerkennung der Gebiete Donezk und Luhansk freute. Als DNR und LNR Ende Februar von Russland als Volksrepubliken offiziell anerkannt wurden, freute sich niemand darüber. Man redete überall davon: auf den Straßen, im Supermarkt, in der Familie und im Freundeskreis. Damals machte man sich schon Gedanken, dass diese Anerkennung zu einem Krieg führen kann. Denn wir alle wussten, dass die Ukraine diese Gebiete niemals abgeben würde. Andererseits wussten wir auch, dass Russland es auch nicht tut. Sollte man in Mariupol ein Referendum abhalten und fragen, ob die Stadtbewohner unter der russischen Herrschaft wohnen wollen, würde sich die Mehrheit ganz eindeutig dagegen entscheiden. Niemand aus meiner Umgebung würde auf diese Frage mit ‚JA‘ antworten

Die Nacht vom 24. Februar kann man wohl als die schlimmste Nacht im Leben jedes Ukrainers bezeichnen. Wie war diese Nacht für Sie?

In der Nacht vom 23. auf 24. Februar wurde ich mitten in der Nacht von Explosionen geweckt. Es war halb drei, drei Uhr. Ich schaute aus dem Fenster und sah die Flammen in der Ferne. Mir wurde sofort klar, dass wir auf der Stelle weg müssen. Wir nahmen unsere Pässe und fuhren ins Zentrum, in eine andere Wohnung, wo die Großmutter meines Freundes wohnte. Die nächsten Tage waren relativ „ruhig“, aber danach war es die Hölle auf Erden. Ganz schlimm sind die Luftangriffe. Man hat nur noch vier bis fünf Sekunden, um sich zu verstecken. Der Lärm ist einfach unerträglich. Die Luftangriffe sind mit nichts anderem zu vergleichen“.

Von der Außenwelt abgeschnitten

Schon nach zwei Tagen nach Kriegsbeginn waren wir von der Außenwelt abgeschnitten. Kein Strom, kein Wasser, keine Heizung und Netzabdeckung. Die Tatsache, dass ich über zehn Tagen keinen Kontakt zu meiner Mutter hatte, die im Ausland wohnt, machte die Lage für mich noch schwieriger. Gott sei Dank, schneite es Anfang März. Wir sammelten den Schnee, ließen ihn schmelzen und benutzten es als Trinkwasser. Unser Hausmeister Vladislav sammelte täglich die Flaschen bei allen Nachbarn, um sie mit Trinkwasser zu versorgen. Dabei riskierte er sein Leben, weil die Bombardierungen nicht aufhören.

„Ich konnte die Stadt, die mir sonst so vertraut war, nicht wiedererkennen“

„Ungefähr nach zwei Wochen bekam man die Möglichkeit ins Zentrum zu fahren. Als ich nach draußen ging - mir fehlen noch immer die Worte - ich war einfach sprachlos. Es herrschte eine Grabesstille. Man hörte nur noch die Vogel singen. Überall lag zerbrochenes Glas, man konnte keinen Schritt tun ohne das Knirschen unter den Füßen zu hören. Man sah die Leichen auf den Straßen liegen, es gab keine Fenster in den Häusern... und der Gestank, man konnte ihn überall riechen. Brand- und Verwesungsgeruch vermischten sich, es war unerträglich und abstossend. Ich konnte die Gegend, die mir sonst so vertraut war, nicht wiedererkennen. An dem Tag, an dem wir in die Stadt fuhren, gab es die ersten Bombardierungen im Zentrum Mariupols. Wir fuhren zurück nach Hause und verbrachten die nächsten drei Tage im Keller. Nach drei Tagen ohne Sonnenlicht, konnten wir den Keller endlich verlassen. Eine Kerze war unsere einzige Lichtquelle.

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Kein Wasser, kein Licht, kein Essen: Die Existenz auf der Überlebungsgrenze © privat

„Es waren nicht mehr die Straßen, die ich kannte“

„Als wir aus dem Keller kamen, waren es nicht mehr die Straßen, die ich kannte. Wir nahmen nur noch schnell das Nötigste mit und gingen zum Auto. Meinen Gedanken drehten sich nur noch um einen Punkt: ich hoffte, dass mein Auto minimal beschädigt und fahrbereit ist. Der Weg zum Parkplatz, der ansonsten zehn Minuten beträgt, dauerte ewig. Wir mussten uns immer wieder verstecken, weil die Bombardierungen nicht aufhörten. Plötzlich hörten wir einen Einschlag. Wir mussten uns sofort verstecken. Wir liefen blitzschnell zu unserem Haus...“

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Solche „Spuren“ werden von der russischen Besatzern überall in der Stadt hinterlassen. © privat

„Er ist wie eine Tomate geplatzt“ 

Als ich den Flur betrat, ist mir der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Ich sah einen Mann, dessen Körper wie eine Tomate geplatzt war. Als ich sein Gesicht sah, erkannte ich meinen Nachbarn. Ein alter Mann, der gegenüber wohnte und mit dem ich öfters Tee getrunken hatte. Dann sah ich die Eingangstür meiner Wohnung, die komplett zerstört war. Ich sah die Blutspuren an den Wänden. Es wurde mir sofort klar, dass er von den Glasbruchstücken meiner Wohnungstür getroffen wurde. Er schaffte es einfach nicht mehr bis zu seiner Wohnung. Erst nach vier oder fünf Tage konnte er von den Nachbarn in unserem Hinterhof begraben werden“.

„Ich bin ein starker Mensch, aber ich konnte es kaum aushalten“

Als wir zurück zum Keller kamen, waren da die verwundeten Männer und Frauen zu sehen. Unser Hausmeister Vladislav, versuchte ihnen erste Hilfe zu leisten. Wir gingen zum Keller im Haus nebenan, um dort ein Versteck zu finden. Die Stimmung dort war alles andere als beruhigend. Die Kinder weinten, eine alte Frau betete. Ich bin ein starker Mensch, aber ich konnte es kaum aushalten. Die Veränderung der Atmosphäre konnte man nicht übersehen. Die ersten Tage im Keller sahen völlig anders aus: die Menschen unterhielten sich, spielten Karten und versuchten sich und vor allem die anderen zu beruhigen und abzulenken. Jetzt drehten sie durch… Paar Tage später erfuhr ich, dass eine alte Frau aus meinem Haus, die ungefähr 90 Jahre alt war, aus dem vierten Stock sprang. Sie konnte es einfach nicht mehr verkraften. Furchtbar.  Ich bin von der Tapferkeit meiner Mitbürger begeistert. Es gab die Essens-Zelte, wo die ukrainischen Soldaten an Stadtbewohner das Essen verteilt haben. Zuerst an alte Menschen, dann an die Frauen und Kinder, schließlich kamen die Männern. Trotz höchst gefährlicher Lage und Hektik, versuchten alle einen kühlen Kopf zu behalten und den anderen zu helfen. 

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Während der kurzen Feuerpausen wird in Mariupol im Freien gekocht. © privat

Die ganze Aufmerksamkeit gilt nun dem Azow-Stahlwerk. Was können Sie dazu sagen?

„Viele Menschen versteckten sich im Azow-Stahlwerk, weil es da genug Essen gab…Alle waren davon überzeugt, dass die russische Arme es nicht angreift, da es praktisch das Zweite Tschernobyl bedeuten würde. Die Einwohner von Mariupol dachten, dass es wohl der sicherste Ort in der Stadt ist und dafür gibt es viele Gründe. Das Azow-Stahlwerk bringt eine Menge Geld ein und gibt viele Arbeitsplätze. Das heißt, dass es für Russland auch von Vorteil wäre. Seine Oberfläche belegt fast die Hälfte der Stadt. Sogar während des Zweiten Weltkrieges hörte die Arbeit auf dem Azow-Sthalwerk nicht auf. Das Abstellen des Stahlwerks würde einen immensen Verlust bringen. Niemand dachte, dass man auf dieses Risiko eingeht“. 

Waren Sie nochmal in Mariupol, nachdem Sie es Ende März wegen des Krieges verlassen mussten? 

 Ja, und es war überhaupt nicht leicht, in die Stadt zu kommen. Wir haben unsere Wohnung in Eile verlassen: ein bisschen Geld, Pässe - das war wortwörtlich alles, was wir mitgenommen haben. Deswegen entschieden wir Ende März, nach Mariupol zu fahren, um weitere notwendige Sachen zu holen. Will man in Mariupol einreisen, muss man die sogenannte „Filterung“ bestehen, bei der alle Autos, die ein- und ausfahren, von russischen Okkupanten streng kontrolliert werden. Auf diese Weise wollen sich die russischen Besatzer vergewissern, dass man für sie keine Gefahr darstellt; einfacher gesagt, dass man kein Diversant (feindlicher Agent) ist“. 

Rückkehr nach Mariupol: Ein Albtraum, der wahr geworden ist

Noch vor der Einreise in meine Heimatstadt, habe ich mich auf das Schlimmste vorbereitet. Als ich den Kontrollposten endlich hinter mir hatte, erwartete mich ein reiner Horrorfilm. Auf dem Weg zu meinem Haus, konnte man überall die verlassene und zerstörte Militärtechnik sehen. Man konnte nur noch das Vogelgezwitscher hören. Die Straßen und Stadtviertel, die früher so belebt waren, waren jetzt wie ausgestorben. Die Autofenster mussten wir die ganze Zeit geschlossen halten, denn der Gestank der Leichen war einfach unerträglich“.

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Überall in Mariupol kann man auf den Straßen die zerstörte Militärtechnik sehen © privat

Was soll man sich unter „Filterung“ vorstellen?

Bei der Filterung wird man vor allem auf Waffenbesitz und Tattoos überprüft. Ich habe einen Bekannten, der 30 Tage lang wegen seinem Tattoo mit ukrainischem Wappen, „gerb“, dem Symbol unseren Landes, im Gefängnis eingesperrt wurde. Man hat ihn nämlich bei der „Filterung“ nicht reingelassen. Dabei ging es übrigens um ein altes Tattoo. Die Handys werden auch kontrolliert, vor allem die Bildern und Videos, die man auf dem Handy hat .Die russischen Kontrollposten haben ein bestimmtes Programm, mit dem sie diese vor Ort schnell und „problemlos“ löschen können. Ich habe schon oft davon gehört, dass man sich nach der Filterung von seinem Handy oder Auto verabschieden musste. Es kann sogar einen Tag lang dauern, bis man das Filtern hinter sich hat. Am Ende bekommt man eine Art Bescheinigung, das sogenannte „Filtrationszertifikat“ - ein kleines Papier, das von Hand beschriftet und gestempelt wird, mit dem man sich in der Stadt bewegen könnte. Dieses sollte man dann bei jedem Kontrollposten vorzeigen. Was das Ganze umso komplizierter macht, ist die Tatsache, dass es keine allgemeine Bescheinigung für alle Kontrollposten gibt. So muss man z.B. mehrmals „filtriert“ werden, um vom einen Ende bis zum anderen Ende der Stadt zu gelangen. 

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Ohne „Filtrationszertifikat“ dürfen ukrainische Bürger nach Mariupol nicht einreisen. © privat

Wo sind Sie aktuell?

„Aktuell befinde ich mich in einem russischen Dorf, weil hier die Verwandten meines Freundes wohnen. Es war eine schwierige, aber nötige Entscheidung. Ich kann mir ein Leben hier gar nicht vorstellen. Es ist nur eine Zwischenstelle. Bald fahre ich zu meiner Mutter ins Ausland. Ich bin aber dankbar dafür, dass man uns hier unterbringen konnte“. 

In Mariupol findet man immer wieder die Massengräber. Ist die Stadt jetzt zu einem Friedhof geworden?

Wir haben mittlerweile eine Gruppe in sozialen Netzwerken, die Vermisste/Tote von Mariupol, wo man die Todesanzeigen findet und veröffentlicht. In diesem Chat geht es darum, dass man das Foto der Person, die gestorben ist, sowie die kurze Info wie Geburtstag, -ort, Name und Todestag mitteilt. So hilft man unter anderem den Familien ihre vermissten Familienmitglieder zu finden. Was die Notbestattungen in den Höfen angeht: hier verstecken die Menschen oft den Pass des Toten in dessen Hosentasche oder Socken, damit man dann nach dem Ende des Krieges seine Verwandten, Frau, Mann oder Kind wiederfinden und identifizieren kann…Ich weiß auch von einem Wohnhaus, das von den Bombardierungen bis auf die Grundmauern zerstört wurde. Alle Menschen, die sich darin befanden, meines Wissens waren es ungefähr 62 Personen, liegen immer noch unter Ruinen. Das, was uns nach dem Kriegsende erwartet, wenn alle Trümmer beseitigt sind und alle Menschen gefunden werden… Es könnte wohl schlimmer als in Butscha sein…

Leider ist immer noch kein Frieden in Sicht. Was sind Ihre Gedanken über die Zukunft?

„Ich gebe nicht auf. Ich liebe mein Zuhause, meine Stadt. Es ist paradox: jetzt sind für mich alle Türe offen, ich kann zu meiner Mutter ins Ausland, ich kann in ein anderes Land Europas, aber das Einzige was ich will - ist zurück nach Mariupol. Jeden Tag bekomme ich Nachricht über den Tod eines Bekannten. Ich musste meine Heimatstadt verlassen, ich wurde dazu gezwungen aus dieser zu fliehen. Ich weiß nicht, was noch alles auf uns zukommt. Aber bei einem bin ich ganz sicher - ich will unbedingt nach Mariupol zurück. Ich bin dafür bereit, meine Stadt aus den Ruinen wieder aufzubauen. Ich kenne viele Menschen, die immer noch in Mariupol bleiben, denn sie wollen ihr Zuhause nicht verlassen. Sie haben hier ihr Leben und ihr Zuhause aufgebaut und hart dafür gearbeitet. Die Gegenwart ist erschreckend und düster. Aber ich schaue trotzdem hoffnungsvoll in die Zukunft.

Am Ende unseres Gesprächs, teilte uns Maryna traurig mit, dass sie Tags zuvor vom Tod ihres besten Freundes erfuhr. Genauso wie viele andere ukrainische Männer, entschied sich der junge Mann dafür, für die Freiheit seines Landes an der Front zu kämpfen. In seinem letztem Schreiben an Maryna teilte er ihr mit, dass er ein Kriegstagebuch führt, in dem er über alle Ereignisse des russisch-ukrainisches Krieges berichtet. Mit einem traurigen Lächeln sagt sie: „Meine letzte Nachricht an ihn lautete: Ich werde alles tun, damit die Welt von diesem Tagebuch hört. Ich verspreche es dir“. 

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